Kolumne: Der faule Frieden – Ein Blick auf das Gaza-Abkommen
Die jüngste Einigung zwischen Israel und der Hamas, vermittelt durch die USA, markiert einen Moment tiefster Ambivalenz. Es ist ein Hoffnungsschimmer für die Geiseln und ein lebensnotwendiger Atemzug für die Zivilbevölkerung in Gaza. Doch bei näherer Betrachtung ist es ein „fünf-Finger-Griff nach dem Strohhalm“: Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser temporäre Waffenstillstand zu einem dauerhaften Frieden führt, ist angesichts der ungelösten, fundamentalen Konflikte als eher gering einzustufen.
I. Der Preis der Atempause
Die nun beschlossene Phase 1 des Plans (Geiselaustausch, humanitäre Hilfe, zeitlich befristeter israelischer Rückzug) hat eine moderate bis gute Chance, kurzfristig zu halten. Warum? Weil die Interessen beider Seiten – kurzfristig – übereinstimmen:
- Israels Priorität: Die Rückkehr der Geiseln. Dies ist der stärkste Motor, der die Regierung Netanjahu dazu bringt, das Risiko des Deals einzugehen.
- Hamas‘ Anreiz: Die Freilassung inhaftierter palästinensischer Kämpfer und die Nutzung der Waffenruhe als dringend benötigte Atempause von den Angriffen.
Genau hier liegt jedoch der größte Risikofaktor, der die gesamte Vereinbarung unterminiert: Die Befürchtung ist zutiefst realistisch, dass die Hamas die Freilassung erfahrener militärischer und politischer Kader sowie die Ruhepause nur nutzt, um die Organisation neu aufzustellen, Tunnelsysteme zu reparieren und die militärische Schlagkraft wiederherzustellen.
II. Die ungelösten Hürden für dauerhaften Frieden
Wenn Phase 1 die Wunden nur oberflächlich versorgt, liegen die Ursachen für eine künftige Eskalation tiefer. Die langfristige Stabilität scheitert an vier zentralen Herausforderungen, die in diesem Abkommen noch nicht einmal adressiert wurden:
- Die Hamas-Frage: Der US-Plan fordert die Entwaffnung der Hamas – ein Schritt, den die Organisation, die sich als zentrale politische Kraft versteht, rigoros ablehnt. Solange keine Einigung darüber erzielt wird, wer den Gazastreifen nach dem Krieg regieren und entmilitarisieren soll, bleibt jeder Waffenstillstand eine tickende Zeitbombe.
- Die Palästinenserfrage: Die tiefer liegenden Ursachen des Konflikts, wie die ungelöste Frage eines palästinensischen Staates (Zweistaatenlösung) und die israelische Sicherheit, werden nicht angegangen. Ohne eine verbindliche politische Perspektive wird die Bereitschaft zu erneuten Feindseligkeiten bestehen bleiben.
- Regionale Sabotage: Regionale Mächte wie der Iran oder die Hisbollah, die an einem US-geführten Frieden, der die Hamas schwächt, kein Interesse haben, stellen eine ständige Bedrohung dar und könnten versuchen, das Abkommen zu sabotieren.
- Kriegsverbrechen und Gerechtigkeit: Die schweren Vorwürfe von Kriegsverbrechen auf beiden Seiten haben eine Kluft des Hasses und der Rachsucht geschaffen. Ein dauerhafter Frieden setzt einen Prozess der Rechenschaft (Wahrheitskommissionen) voraus – ein politisch nahezu unmögliches Unterfangen, das aber für eine Heilung der Gesellschaften notwendig wäre.
Fazit:
Die Stabilität des Abkommens hängt vollständig davon ab, ob die internationalen Mächte es schaffen, die militärische Reorganisation der Hamas durch eine entschlossene Umsetzung der Phase 2 (Entwaffnung und Regierungswechsel) zu verhindern. Scheitert diese zweite Phase, wird das, was heute als diplomatischer Triumph gefeiert wird, nur eine Pause sein, bevor der blutige Konflikt in der nächsten, womöglich noch heftigeren Eskalation zurückkehrt. Es ist ein fauler Frieden, erkauft durch Geiseln, der nur durch maximalen politischen Willen der Weltgemeinschaft am Leben erhalten werden kann.